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Le camp d’internés 1914-1919
Le camp d’internés 1914-1919

Dieser Internet-Auftritt verfolgt das Ziel, möglichst viele Informationen über das Internierungslager auf der Ile Longue zusammenzustellen, damit Historiker und Nachkommen der Internierten sich ein Bild von den Realitäten dieses bisher wenig bekannten Lagers machen können - nicht zuletzt auch, um die bedeutenden kulturellen Leistungen der Lagerinsassen zu würdigen.

Le but de ce site est de prendre contact avec les familles des prisonniers allemands, autrichiens, hongrois, ottomans, alsaciens-lorrains... qui ont été internés, pendant la Première Guerre mondiale, dans le camp de l’Ile Longue (Finistère).

Max Pretzfelder – Das „ersehnte“ Lager und die Flucht
On-line gesetzt am 11. März 2016
zuletzt geändert am 19. August 2020

von Ursula

Max Pretzfelder gehört zu den Künstlern, die das Kulturleben auf der Ile Longue besonders geprägt haben. In den Archives départementales du Finistère befinden sich Belege seiner künstlerischen Tätigkeit während seiner Internierungszeit. Auch in weiteren Archiven und Museen haben wir Spuren von ihm aus dieser Zeit gefunden: Deutsches Historisches Museum, Berlin; Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg; Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg; Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University; Deutsche Kinemathek (Nachlass G.W. Pabst), Berlin; Deutsche Nationalbibliothek, Leipzig.

Im Deutsches Literatur-Archiv Marbach, befinden sind in der Sammlung des Schriftstellers Karl Wolfskehl Briefe von Max Pretzfelder, die er während der Zeit seiner Internierung geschrieben hat, sowie ein Text “Novelle Flucht” mit vier Skizzen über seinen Ausbruch aus dem Lager im Jahr 1919. Diese Dokumente sind die Grundlage meiner Beschreibung seines Aufenthaltes auf der Île Longue. Hinsichtlich der Veröffentlichung konnte der Rechteinhaber trotz intensiver Suche nicht ausfindig gemacht werden. Sollten geltende Rechte bestehen, nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf.

Vorderseite der Postkarte von Max Pretzfelder an Karl Wolfskehl aus dem Internierungslager Île Longue vom 14.05.1918
Front of a postcard written by Max Pretzfelder in the Île Longue internment camp to Karl Wolfskehl, dated May 14, 1918
Deutsches Literatur-Archiv Marbach

Das „ersehnte“ Lager

Max Pretzfelder wurde am 7. März 1888 in Nürnberg geboren. Seine Eltern waren Julius und Fanny, geb. Lauder. Mit 18 Jahren besuchte er die Akademie der Bildenden Künste in München, anschließend ging er zur Kunstakademie nach Karlsruhe und belegte dort Kurse bei Prof. Wilhelm Trübner.

1908 lernte er den Schriftsteller Karl Wolfskehl in München kennen. Es entwickelte sich bald eine langjährige, enge Freundschaft zwischen den beiden Männern. Über Karl Wolfskehl, der dem George-Kreis angehörte, hatte Max Pretzfelder Zugang zur Kunst- und Kulturszene. Ab 1910 unternahm er viele Reisen, die Städte Florenz, London, Straßburg, Marseille, Berlin und Hamburg sind dokumentierte Ziele.

Im Sommer 1914 fuhr er nach Paris, dem Treffpunkt junger Künstler. Dort wurde er von der Mobilmachung überrascht und am 6. August verhaftet. Die ersten Jahre seiner Internierung verbrachte Max Pretzfelder im Lager Lanvéoc. Weil er sich in dem kleinen Lager zunehmend unwohl fühlte, beantragte er selbst die Verlegung zum Lager der Île Longue. Er berichtete Karl Wolfskehl am 4. Dezember (1917?) von seiner Hoffnung, bald in das neue Lager zu kommen:

... J’attends avec impatience mon transfert à l’Ile longue et je souis [sic!] pleine [sic!] d’esperance [sic!] d’y retrouver une vie plus intense, car ici nous souffrons beaucoup de la monotonie d’un petit camp. (Ich erwarte voller Ungeduld meine Verlegung zur Ile Longue und bin voller Hoffnung, dort wieder ein intensiveres Leben führen zu können, denn hier leiden wir sehr unter der Monotonie eines kleinen Lagers. ...)

Seine genaue Ankunftszeit ist in der Lagerkartei der Île Longue nicht vermerkt, vermutlich wurde er Mitte Dezember 1917 dorthin verlegt. Er wurde in Baracke 26 (auch Gruppe 26 bezeichnet) untergebracht. Schon am Neujahrstag berichtete er Karl Wohlfskehl über seine ersten Eindrücke:

1. Januar 1918

Mein lieber Karl

Wie Du sehen wirst, bin ich nun doch endlich in das lange ersehnte neue Lager gekommen. Andere Dimensionen, andere Menschen: andere Möglichkeiten. Es sind hier zumeist Seeleute, die vom Auslande kommend auf den Schiffen festgenommen wurden. Als Masse (1500 Mann) wirken sie mächtig einheitlich national. Darinnen sind Inseln, allerdings wenige, werth einer größeren Geistigkeit. Ich lege Dir als Mensch + als Bibliophile unsere Lagerzeitung bei, der Kopf ist zwar schlecht aber doch von mir. Darunter findest Du einen Artikel eines früheren Nachbarn aus d. Schwab. Landstraße, des Herrn Pfarrers Hommel, dessen Bruder Dir vielleicht bekannt ist. Dieser Herr Hommel ist ein sehr zarter + feiner Mensch + hat nicht im Entferntesten die Allüren eines Geistlichen. Mit ihm und einigen anderen wollen wir ein monatliches Beiblatt zur „Insel-Woche“ herausgeben das die Beziehung des heutigen geistigen Deutschlands mit uns herstellen soll. Ich will jedesmal ein Blatt, Radierung oder Lithografie beilegen. Um dieses rein geistige Werk herzustellen möchte ich Dich um die Erlaubnis bitten aus Deinen Briefen Interessantes in dieser Hinsicht bringen zu dürfen + wenn es Dir gefällt evtl. direkt dafür Mitteilungen an mich zu senden. Vielleicht ist auch Herr Rilke dieser Idee zugänglich? Da dieses Blatt ja nur in die Hände einiger Auserwählter gelangt + für uns von so großer Bedeutung sein kann wäre uns Deine Hilfe sehr sehr erwünscht, denn der Niedergang mancher Menschen ist bei der langen Dauer der Gefangenschaft sehr zu fürchten + es ist durchaus menschlich notwendig uns schon oder noch zu erhalten für spätere Leistungen. Natürlich sende ich Dir alle Erscheinungen dieser „einsamen Presse“, die vielleicht ein bibliophiles Interesse für Dich haben werden. Wir haben hier, mein Freund Weiss [1] + ich schon ein modernes Cabaret gemacht das großen Erfolg hatte. Die Wohnungs + Nahrungsverhältnisse sind hier weniger günstig, doch ist das Ganze malerisch recht anregend, wir bekommen nur 200 Gramm Brot, aber was uns noch mehr fehlt, ist Tabak + wenn Du einmal Zigaretten für mich auftreiben solltest oder sonst etwas brauchbares, so wäre ich Dir sehr dankbar dafür. Lieber Karl, ich weiß daß Du auch viel zu leiden hast, aber stehen wir uns nicht gerade darum näher? Du wirst also nicht übel nehmen wenn ich an Deine Mithilfe auch für andere Menschen appeliere [sic!]. Der vollständige Ruin unserer Geisteskräfte ist drohend nahe!

Ich denke sehr sehr lieb an Dich Karl + an die Deinen!

Dein Max

Hast Du den Gundolf-Goethe eigentlich abgesandt? Ich habe mir alle in meinem Besitz befindlichen Bücher Georges senden lassen.

Auch seiner Freundin Maja Bühler, die in Karlsruhe lebte, teilte Pretzfelder am 17. Januar die gute Nachricht mit:

... Wie Du siehst bin ich nun doch noch in ein anderes Lager gekommen + bin mit dem Tausch sehr zufrieden. Schreibe mir sofort wie es Dir geht, denn ich bin in großer Angst wegen des Fliegerangriffs auf Karlsruhe. ...

In der Neujahrsausgabe 1917/1918 der Lagerzeitung Insel-Woche Nr. 39 vom 31. Dezember 1917 wurde die Ankunft eines in Deutschland „bekannten und geschätzten“ Künstlers erwähnt. Auf der Titelseite dieser Ausgabe war bereits eine Grafik von Max Pretzfelder platziert. Von der neuen Zeitungsvignette, die Max Pretzfelder ebenfalls entworfen hatte, waren die Redaktionsmitglieder der Insel-Woche so begeistert, dass sie diese gleich ab dem 13. Januar 1918 für mehrere Ausgaben verwendeten.

Max Pretzfelder,
Zeitungsvignette Insel-Woche Nr. 42 vom 20.01.1018
Ornamental border, Insel-Woche Nr. 42 dated January 20th, 1918
(Archives départementales du Finistère)

Offensichtlich hatte sich Max Pretzfelder gleich nach seiner Ankunft im Dezember mit großem Elan an die Arbeit gemacht. Am 13. Januar erschien in der Insel-Woche eine Werbeanzeige, in der Max Pretzfelder Radierungen, Lithografien und Holzschnitte aus dem Gefangenenleben anbot, die er im Lager Lanvéoc hergestellt hatte, darunter wahrscheinlich auch die Radierung Explosionen über einer Stadt (in: Kunstmappe Bibliotèque nationale et universitaire de Strasbourg), die er unter dem Eindruck des Fliegerangriff auf Karlsruhe am 22. Juni 1916 erstellt hatte.

Auf der Île Longue waren zum Zeitpunkt seiner Ankunft bereits andere Künstler tätig. Zu erwähnen ist hier insbesondere Leo Primavesi, ein deutscher Künstler, der am 5. August 1914 in Antwerpen verhaftet worden war. Er kam zuerst in das Lager Dinan und wurde am 28. März 1915 zur Île Longue verlegt. Bei der Ankunft von Max Pretzfelder arbeitete Leo Primavesi bereits für die Lagerzeitung und für das Theater. Im Verlaufe des Jahres 1918 wurden drei begabte ungarische Künstler zur Île Longue verlegt, was für Max Pretzfelder sicherlich eine willkommene Anregung war: Paul von Kovacs (24. Februar 1818), Paul Beck, auch Paul Bor Beck genannt, (30. November 1918) und Arpad von Kesmarky (30. November 1918). Im Lager wurden Kunstmappen hergestellt und verkauft, in denen die Werke der verschiedenen Künstler enthalten sind. [2]. Die Werke zeigen, dass sich die Künstler gegenseitig beeinflusst haben.

Max Pretzfelder schaffte sich ein umfangreiches Betätigungsfeld: Er malte oder zeichnete Porträts von seinen Mitinternierten und stellte für sie die damals so beliebten Exlibris (kleine ganz individuelle Buchmarken) her. Er fertigte verschiedene Lithografien an. Seine Motive waren häufig Lager- und Inselansichten, zum einen wegen der wirklich malerischen Landschaft, zum anderen bestand wahrscheinlich eine erhebliche Nachfrage nach solchen Bildern. Seine Werke zeigen aber auch, dass er sich mit dem Krieg und dem Leiden im Lager auseinandergesetzt hat. [3] Er verfasste auch Texte und Gedichte. Eine anrührende Geschichte, ein illustrierter Kunstdruck Das undurchdringliche Abenteuer befindet sich ebenfalls in den Sammelmappen. Max Pretzfelder arbeitete auch für die verschiedenen Einrichtungen des Lages: Er entwarf das Titelbild für die Broschüre Unterricht im Lager - Unterrichtswesen (Eule) und das Titelbild für die Sammelmappe Lagerzeitungen (Zeitungsleser). Er illustrierte Artikel in der Insel-Woche und hielt Vorträge für die „Freunde der bildenden Kunst“. Das Lagertheater, das G.W. Pabst leitete, interessierte ihn besonders. Max Pretzfelder gestaltete Programmhefte (z.B. Der Tor und der Tod) und übernahm in diesem Stück sogar die Rolle des Toren. Im Laufe der Zeit freundete er sich mit G.W. Pabst an - eine Freundschaft, die über die Internierungszeit hinaus hielt.

Max Pretzfelder,
Programmheft der Tor und der Tod vom 10.03.1918
programme bill “Der Tor und der Tod”(“The Fool and Death”), March 10th, 1918
(Archives départementales du Finistère)

In den folgenden Monaten wurde die Situation im Lager jedoch immer schwieriger. Die Internierten erhielten nur wenige Postsendungen, und sie hatten kaum noch Kontakt zur Außenwelt. Ihre einzige Informationsquelle war die Presse, da es ihnen möglich war, im Lager Zeitschriften und Zeitungen zu kaufen. Ihnen wurde immer mehr bewusst, dass der Krieg für die Mittelmächte nicht mehr zu gewinnen war und dass die Chancen für einen Gefangenenaustausch immer geringer wurden. Ende April 1918 gab es einen Hoffnungsschimmer: Die Zeitungen berichteten von einem Austauschvertrag, der schon unterschriebene, aber noch nicht ratifiziert worden war. Sofort informierte Max Pretzfelder Karl Wolfskehl:

1. Mai 1918

Mein lieber Karl

Heute lasen wir in der Zeitung, dass man sich nunmehr doch dazu entschlossen hat die Civilgefangenen nach Hause zu lassen + wenn ich Glück habe, bin ich vielleicht in 4 Monaten bei Dir! Ich komme zurück als gesunder lebensmutiger Mensch, auch körperlich wohl. Ich verdanke dies hauptsächlich meiner Arbeit. Es ist wahr, daß mir Euer Leben draußen recht entfremdet sein wird, wir haben seit 3-4 Monaten überhaupt fast keine Post erhalten. So wird auch das Schreiben recht schwierig. Ich lege Dir eine kleine Lithografie bei, die eine milde Censur [sic!] vielleicht in Deine lieben Hände gehen lässt, es ist der Kopf für unsere Zeitung den ich gezeichnet habe. ...

Max Pretzfelder,
Zeitungskopf Insel-Woche Nr. 4 vom 27.04.1018
head of newspaper, Insel-Woche Nr. 4 April 27th,1918
(Archives départementales du Finistère)

Nachdem der Vertrag Anfang Mai ratifiziert worden war und die Tageszeitungen den Text am 12. Mai veröffentlicht hatten, wurde dieser auch im Lager durch einen Aushang bekannt gegeben. Die Internierten rechneten demnach mit ihrer Freilassung ab dem 15. August.

Alle bereiteten sich auf die Freilassung vor. Bücherei und Theater wurden geschlossen, die Bestände verpackt. Die Internierten beschäftigten sich mit Einzelheiten der Heimführung und stellten eine Liste mit Anfragen und Wünschen zusammen, die z.B. die Rückgabe des persönlichen Eigentums und finanzielle Regelungen betrafen. Transport- und Reisedetails wurden erfragt. Einige packten bereits ihre Koffer. Auch Max Pretzfelder versuchte, einige Dinge zu regeln, unter anderem schickte er Karl Wolfskehl eine Karte.

14. Mai 1918 Ile Longue

Lieber Karl ! In einigen Wochen bin ich bei Dir. Du hast wohl vom allgemeinen Austausch gelesen ? Ich komme wahrscheinlich zuerst nach München. Es ist möglich daß Briefe für mich an Deine Adresse gehen, bitte sie für mich aufzubewahren. Auch Deine Gefühle !

Sehr Dein Max

Liebe Grüße an Frau Hanna + die großen Töchter

Die Internierten hofften und warteten vergebens. Die Durchführung des Vertrages wurde unterlaufen bzw. verzögert. Erst im November 1918 sollten die ersten Transporte nach Hause gehen. Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands sahen sich die Franzosen jedoch nicht mehr an den Vertrag gebunden. Im Dezember 1918 wurden die Gefangenen zudem noch besonders von der zweiten Welle der Spanischen Grippe, einer Pandemie, heimgesucht, die vermutlich die Amerikaner über Brest mitgebracht hatten (ca. 700 Erkrankungen bei etwa 2.000 Internierten). Niedergeschlagenheit und Verzweiflung breiteten sich unter ihnen aus. Max Pretzfelders Brief vom 1. November 1918 verdeutlicht die Stimmung im Lager.

... Mit uns spielt man Katze + Maus der Zug mit dem ich weg sollte war schon bereit, - ceinture. Die Leute aus Lanvéoc sind schon zu Hause. Die Monumentalität unseres Zusammenbruchs hängt wie ein Albdruck auf unseren einsamen Tagen + doch liegt darin eine Art Befreiung. Wie werden wir uns wiedersehen, Karl? Wir glauben, daß es nicht vor dem Frühjahr sein wird.
Unsere Baracken schwanken im Sturmwind.
Erneuerung oder Tod?
Das ist das Schwarz-Weiss des Lebens. …

Dies ist wahrscheinlich das letzte Schreiben, das Karl Wolfskehl aus dem Lager bekommen hat, zumindest befindet sich in seiner Sammlung kein weiterer Brief von Max Pretzfelder aus der Internierungszeit.

Ein weiteres, schreckliches Jahr in der Gefangenschaft stand Max Pretzfelder und den anderen Internierten noch bevor. Anfang 1919 wurden die Lager in Frankreich umstrukturiert oder geschlossen; verbleibende Gefangene wurden auch zur Île Longue verlegt. Unruhen, Widerstände und Gewalt nahmen dort zu. Es kam sogar zu einem tragischen Zwischenfall: Anfang Juni wurde ein Gefangener erschossen, ein anderer verletzt. Selbst als am 28. Juni 1919 der Friedensvertrag von Versailles unterschrieben war, wurden die Internierten noch nicht freigelassen. Die Stimmung im Lager verschlechterte sich weiter. Die Zahl der Ausbrüche und Ausbruchsversuche stieg.

Die Flucht

Max Pretzfelder trug sich ebenfalls mit dem Gedanken zu fliehen. Er hatte zusehen müssen, wie sein österreichischer Freund G.W. Pabst zusammen mit den anderen Nicht-Deutschen bereits im Mai 1919 das Lager verlassen durfte. Da er die Situation als ganz unerträglich empfand, versuchte auch er, in die Freiheit zu gelangen.
In der Nacht vom 30. auf den 31. August 1919 floh er gemeinsam mit Carl Friedrich Ahnert [4] aus dem Lager. Seine Absicht war es, zu seiner Schwester Lilli zu fahren, die in Spanien lebte. Beide wurden jedoch am 2. September 1919 in Hendaye an der spanischen Grenzen festgenommen und in das Internierungslager Garaison in den Pyrenäen gebracht. Dort mussten sie noch 30 Tage im Arrest zubringen, bevor sie in die Freiheit entlassen wurden.

Über seinen Ausbruch aus dem Lager hat Max Pretzfelder einen Text “Novelle Flucht” geschrieben und vier Skizzen dazu angefertigt. Er nennt sich darin “Georg”, nimmt also den Vornamen seines abwesenden Freundes G.W. Pabst an.

Max Pretzfelder,
Skizze zum Text Flucht, undatiert
draft of an illustration of the text Flucht (“Escape”), undated
(Deutsches Literatur-Archiv Marbach)

Abschrift des mit Schreibmaschine verfassten Textes, (undatiert, 8 Seiten) [5]:

F l u c h t

Novelle von Max Pretzfelder

Die Sonne war nahe am Untergehen. Drüben über der Bucht färbte sich die Landlinie violett. Eine frische Brise wehte über die Halbinsel – da ertönte auch schon das Trompetensignal zum Abendappell. Aus den Wirrnissen der Stacheldrahtgänge strömten die Gefangenen zurück in ihre Baracken, mutlos, enttäuscht – wieder war ein Tag vergangen, der nichts Neues brachte, keine Hoffnung, kein Ende. … Wie immer verliess als Letzter Georg den Sportplatz; seit sein Freund, der Oesterreicher, von den Franzosen freigelassen worden war, fiel ihm die Rückkehr in die dumpfe, stinkende Baracke voller Lärm und Streit besonders schwer. Immerhin – er hatte etwas Petroleum gespart und die paar Freunde, die ihm blieben, hatten gerade ihre monatliche Unterstützung erhalten – bis heute Abend konnte man endlich wieder mal pokern, und dann vielleicht war’s doch vielleicht heute möglich ! - - Müller hatte gesagt, dass er morgen draussen, ausserhalb des Lagers, mit drei Leuten Kohle holen würde – nur von zwei Wächtern begleitet – und vielleicht wäre es möglich, dass George, nachdem er die zweite Wache an der Zugbrücke passiert hätte, unbemerkt, als ob er zugehörig sei, sich dem Zug anschliessen könnte, - allerdings, wie er zur zweiten Wache vordringen könne, das sei Georgs Sache – wohl ziemlich aussichtslos - : die Wachen seien sehr scharf seit dem letzten Versuch, der natürlich missglückte – und dafür wurden drei französische Soldaten in die Legion strafversetzt. Und dann wenn es regnen sollte, würde auch die Kohlenexpedition nicht stattfinden, die Wächter dächten nicht daran „de se faire mouiller pour les boches“. -

Georg verhängte seine Kabine sorgfältig mit geliehenen Decken. Das kleine Fenster wurde mit aller erdenklichen Vorsicht abgeblendet. Das kunstvolle Lämpchen, dessen untererer Teil aus einem Tintenfass und dessen Zylinder aus einem Aspiringlas, dessen Boden man entfernt hatte, bestand, wurde vorsichtig angezündet und behutsam in die Mitte der grünen Decke gestellt. Bergmann kam herein - fiebernd, glücklich, mit den Karten. Poker! Licht! Heimlichkeit! Verbot! …. Olbricht und Pabst kamen zusammen. Bald sah man um den schwachen Lichtschein nur die Hände mit den fast unkenntlichen Karten – jeder bemüht, so nahe am Licht zu sehen und doch nicht gesehen zu werden.

Draussen im Gang der Baracke verstummten die Gespräche, - die man schon so oft gehört hatte. Die Bratpfanne war herumgegangen und jeder hatte seine Kartoffeln darin gebraten – zuerst natürliche Hilpert – Hilpert mit seinem Stück Fleisch, das alle in Wut versetzte, - dann der Matrose Karsten, der sie immer zweimal füllen musste, dann Hönig, Levy, Rottmann und die anderen, - zuletzt Pit, weil er das stinkende amerikanische Affenfett benutzte. Die Spieler merkten nichts von alledem - „zwei Paar“ - „drei neun“ - „straight“ und hie und da ein „full house“ von drei derben Flüchen begleitet, war alles, was sie hörten und hören wollten. Die Karten waren von neuem geteilt, Georg, der wie immer mit wenig Glück spielte, war plötzlich in Gedanken versunken; ungeduldig erwartete man seine Erklärung – da wusste er’s heute – noch diese Nach musste es sein – alles war ja seit langer Zeit bis aufs Kleinste ausgedacht, vorbereitet.

Das Spiel war beendet. Georg hielt Bergmann beim Abschied einen Moment zurück. Er klärte ihn über sein Vorhaben auf und bat ihn, die paar Habseligkeiten, die er zurücklassen musste, zu betreuen und ihm später, wenn die Gefangenschaft vorüber wäre, wieder auszuhändigen. Dann war er allein – mit seinem Entschluss. Er zog seinen guten Anzug an, sauberes Hemd, frischen Kragen. Dann zog er die alten Manchesterhosen über und, um möglichst wenig Geräusch zu machen, zwei Paar wollene Socken über die Schuhe. Nachdem er in den alten Regenmantel geschlüpft war, den sportlichen Stoffhut tief ins Gesicht gezogen hatte, löschte er das kleine Licht und trat behutsam hinaus aus der Baracke. Ein feiner Nebel schien sein Vorhaben zu begünstigen, und so schlich er sich langsam bis zur Kantinenecke, dort schon legte er sich auf den Boden, um sich vorsichtig bis zu den ersten Stacheldrähten vor zu tasten. Er wusste genau die Stelle, wo der Draht etwas lockerer war, hob ihn hoch und schob sich langsam vorwärts. Schon war er nahe am Pfad angelangt, der für die patrouillierende Wache angelegt war, als er die Schritte des heran kommenden französischen Postens vernahm. Er wagte nicht zu atmen, ja nicht einmal die Hand zurückzuziehen, auf der die Franzose mit den schweren Stiefeln beinahe getreten hätte … Dann verhallten die schweren Tritte, - der Pfad war überkreuzt und mühsam kroch Georg vorwärts durch das zweite Drahtverhau. Es war recht dunkel und langsam tastete seine Hand sich vorwärts – da – plötzlich zog er sie zurück – er hatte in einen Haufen getappt, den die Wache an diese Stelle zu pflanzen pflegte! Einen Moment des Ekels, - dann sagte er sich: “wenn mir das kein Glück bringt“ … Das kleine Dreieck ward durchquert, dann nochmals die neuen Drahtverhaue; schweisstriefend überwand er auch die – dann war er aus dem Lager im freien Feld. In einer Pfütze wusch er sich die Hände. Der Nebel hatte sich in einen leichten Regen verwandelt, wenn es am Morgen noch regnen würde, dann kam doch der Kohlenwagen nicht, hinter dem er herlaufen wollte, um die schwierige Passage an der Zugbrücke zu überwinden – und zurück - ? Zurück war unmöglich! Sofortige Verhaftung und schweres Gefängnis, die spöttischen Mienen der Kameraden und das alte, endlose grenzenlose Elend, das wieder beginnen sollte! … Nein – er atmete auf – er wird es schon zwingen! Über die spanische Grenze, wo seine Schwester ihn erwartete! …..

Der Regen fiel immer stärker und die Strasse, die bis zur Zugbrücke führte, vermeidend, stapfte er durch schwere Erde der Äcker bis nahe an die hohen Wälle, um dort in einem Gebüsch das Nahen des Kohlenwagens abzuwarten. Der Regen schien allmählich aufzuhören, der Morgen dämmerte und Georg sah hinunter auf die langgestreckt, gradlinige Quaimauer , die die Halbinsel mit dem Festland verband. In der Mitte stand das Schilderhaus des Postens, der auf dem Quai auf und ab ging, und zu beiden Seiten reichten riesige Drahtverhaue tief ins Meer. Vor ihm war der doppelte Wall, über den die bewohnte Zugbrücke führte, und an seiner Seite stürzten die Felsen kerzengerade zum steinigen Strand. Hoch über ihm das Lager mit seinen Masten und Gebäuden – er musste sich sehr in acht nehmen, denn wie leicht konnte er oben vom Lager aus oder unten vom Posten bemerkt werden. - -

Die Stunden verrannen; der Kohlenwagen kam noch immer nicht. Er hatte sich so genau ausgerechnet, wie er hinter den Wagen springen würde, denn er wusste ja, dass Müller die Aufmerksamkeit der beiden begleitenden Wächter ablenken würde. Sein Unruhe wuchs von Minute zu Minute, er musst einen Entschluss fassen – vor oder zurück? ... Vorne die Zugbrücke, - der Posten auf dem Quai, – hinter ihm die Schande des missglückten Ausreissers, – das wieder beginnende qualvolle Leben der Gefangenen. - -

Max Pretzfelder,
Skizze zum Text Flucht, undatiert
draft of an illustration of the text Flucht (“Escape”), undated
(Deutsches Literatur-Archiv Marbach)

Schwere Wolken zogen herauf und ein plötzlich einsetzender Regenschauer brachte ihm die Gewißheit, dass der Kohlenwagen nun nicht mehr zu erwarten sei. Allmählich wurde der Regen so heftig, dass Georg, bis auf die Haut nass wurde. Er sah, wie der Posten auf der Quaimauer seine braune Kaputze [sic!] überzog und plötzlich an seinem Schilderhaus vorbei die lange Quaimauer entlang auf die schützenden Felsenwände der Halbinsel zulief, in denen sich die Hauptwache der untereren Wachmannschaft befand. Georg erkannte sofort das Günstige seiner Situation – die Quaimauer war in diesem Augenblick unbewacht! Er lief, kroch, rutschte, wie es gerade ging, zur hohen Felswand, hielt sich an einer Wurzel fest und sauste hinab auf den steinigen, schmalen Strand. … Er hatte Glück gehabt, denn ausser einigen Stößen und Schrammen war ihm nichts geschehen. Er zog die doppelten Wollsocken, die den Aufprall gemildert haben mochten, von den Schuhen und atmete einen Moment auf - dann ging er das kurze Stück Strand entlang und erklomm die Quaimauer.

Noch immer regnete es heftig und Georg schritt unbekümmert auf dem Quai entlang. Hinter ihm lag die Wache, er wusste es, wagte aber nicht, sich umzusehen. Wenn man ihn von dort aus sah -? Wenn man ihm zurief: „Halte là!“ … Was soll er dann tun? Sein Rücken bot ein prächtiges Ziel für die Gewehre der Soldaten, und er hatte noch nicht die Hälfte der langen, geraden Quaimauer zurückgelegt! Wenn der Posten unterdessen zum Schilderhaus zurückgegangen wäre und sich dort drinnen schützend vor dem Regen zurückgezogen hätte? …

Max Pretzfelder,
Skizze zum Text Flucht, undatiert
draft of an illustration of the text Flucht (“Escape”), undated
(Deutsches Literatur-Archiv Marbach)

Es gab kein Zurück – er näherte sich dem Schilderhaus, - immer das seltsame Gefühl im Rücken, daß mehrere Gewehrläufe auf ihn zielten. Aber der Posten war nicht da; - es mochte früh gegen acht Uhr sein – wer sollte da mit der Flucht eines Gefangenen am hellen Tage rechnen? Und so gelangte Georg bis ans Ende des Quais; noch ein Stück geraden Wegs, dann würde er hinter der Kurve nicht mehr zu sehen sein.

Max Pretzfelder,
Skizze zum Text Flucht, undatiert
draft of an illustration of the text Flucht (“Escape”), undated
(Deutsches Literatur-Archiv Marbach)

Ein Bauer kam ihm entgegen – misstrauischen Blicks entschloss sich der Bretone zu einem kurzen Gruß. Dann lag vor ihm die lange, regennasse Strasse nach Morgat, von wo aus er die Bucht von Douarnenez überqueren musste, um die Bahnstation zu erreichen. - Als er sich allein sah, streifte er die Manchesterhose, die er über den guten Anzug gezogen hatte, ab und warf sie hinter einen Busch. Nun ging’s vorwärts im Regen. Ein Marsch von 2 ½ Stunden führte ihn vorbei am Fort Crozon, wo er die ersten fürchterlichen Tage der Gefangenschaft verbrachte hatte, - vorbei an der Gensdarmeriestation, aus deren Fenster ihn die Gensdarmen teilnahmslos vorübergehen sahen, dann hinunter ans Meer in das kleine Fischerdorf Morgat.

Erschöpft von allen Strapazen betrat er eine kleine Kneipe, ließ sich ein Glas Wein geben und fragte, wann das Boot nach Douarnenez gehen würde. Es sollte erst gegen vier Uhr nachmittags gehen und jetzt mochte es wohl zwölf Uhr Mittags sein. Draussen hatte er den Ortspolizisten bemerkt; wenn er sich im Ort herumtreiben würde, würde man ihn sicher bald nach seinen Papieren fragen. So bat er die Wirtin um ein Zimmer, um bis zur Abfahrt des Bootes schlafen zu können. - Wohl ausgeruht kam er gegen drei Uhr wieder herunter. Zwei amerikanische Soldaten, schwer betrunken, wurden von einigen fürchterlich aussehenden Mädchen geneppt. Das elektrische Klavier hämmerte unausgesetzt – ein Matrose tanzte mit einer der Huren, auf deren Gesicht alle Krankheitsmerkmale ihres Gewerbes zu lesen waren. Das waren die ersten Mädchen, die Georg seit vier Jahren zu sehen bekam! - Dann war es Zeit, auf das kleine Boot zu gehen, in das bretonische Bäuerinnen, französische Urlauber und einige elegante Pariserinnen einstiegen. Der Fahrpreis betrug 28 Francs und sollte beim Aussteigen bezahlt werden. Das war ziemlich viel für Georgs Reisekasse und er hoffte auf eine Gelegenheit, das Geld sparen zu können. - Diese Gelegenheit sollte sich ihm bald bieten. Das kleine Boot schaukelte gemächlich durch die Bucht, vorbei am Menez Homme, dem höchsten Berg der Bretagne, den Georg so oft vom Lager aus in der Abendsonne hatte liegen sehen. Schon näherte man sich dem Hafen von Douarnenez, und der Kontrolleur begann die Fahrkarten zu verkaufen. Langsam glitt das Boot in den Hafen, Fischer und Bauern mit ihren Frauen drängten sich am Ufer. Ein riesiger Dreimaster lag vor dem Boot, sein Bugspriet ragte weit in die Luft. Der Maschinist von Georgs Boot mochte wohl glauben, dass er mit seinem kleinen Mast unter dem Bugspriet hindurch käme, - doch plötzlich stiess die Spitze seines Masts daran, - krachend brach sie ab. Georg bückte sich schnell vor, doch die arme Bäuerin, die neben ihm sass und das Unglück zu spät bemerkt haben mochte, hatte keine Zeit mehr, sich zu retten, der schwere Mast fiel ihr auf den Kopf – blutüberströmt sank sie zu Boden. Wilde Schreie am Ufer, mächtige Erregung an Bord … Georg bemühte sich um die Sterbende und half, sie an Land tragen. Dann verschwand er rasch: er wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, als Zeuge aussagen zu müssen und die 28 Francs hatte er gespart!

Es war schon recht dunkel. Georg betrat ein kleines Hôtel, schrieb sich als Rumäne in das Buch ein und legte sich bald schlafen, denn am nächsten Morgen gegen acht Uhr wollte er den Zug besteigen, der ihn nach Quimper und von da an die spanische Grenze bringen sollte. Nach einer unruhigen Nacht, in der er alles wieder erlebte, bezahlte er sein Logis, und ließ sich noch rasieren, bevor er sich zum Bahnhof begab. Seine Flucht aus dem Lager musste dort schon bemerkt worden sein; wahrscheinlich hatte man alle Stationen der Umgebung, die ohnehin unter militärischer Bewachung standen, bereits benachrichtigt. Zu seinem Schrecken sah er auch einen martialischen Gensdarmen am Billetschalter stehen, der alle Reisenden scharf musterte. Georg wollte eigentlich dritter Klasse fahren, denn seine Mittel waren sehr beschränkt, aber sein Instinkt sagte ihm, er würde weniger auffallen, wenn er ein Billet erster Klasse verlangte, da er ja ganz gut gekleidet war und sein Typ keineswegs deutsche Kennzeichen aufwies. So kam ihm sein auf dem Boot erspartes Geld zu statten, denn wirklich liess ihn der Gensdarm passieren, ohne nach seinen Papieren zu fragen.

Nach kurzem Aufenthalt in Quimper und einer langen Fahrt, bei der er jegliches Gespräch vermied, kam er schliesslich in Bordeaux an. Dort musst er umsteigen, der Zug nach Irun sollte ihn über die spanische Grenze bringen, und es galt, diesen schwierigsten Teil seiner Flucht mit Geschick und Glück zu überwinden, denn Georg hatte weder Pass noch sonstige Papieren die ihm über die Grenze helfen konnten. Lange sucht er nach einem Abteil, das ihm Möglichkeit bieten sollte, sich unter der Bank oder in der Toilette verstecken zu können, wenn der Zug in Hendaye, der letzten französischen Station, ankam. Schließlich fand er ein solches Abteil, nur wenige Reisende benutzten den Zug und er glaubte schon, allein im Wagen zu sein, als zwei ältere Damen zu ihm einstiegen. Es war schon tiefe Nacht, als man sich der Grenzstation näherte – Georg hoffte, dass die beiden Damen, die in ein eifriges Gespräch über einen neu zu kaufenden Kinderwagen vertieft waren, recht schnell das Coupé verlassen würden, damit er sich tief unter die Bank verkriechen könne. Der Zug hielt. Die Türen wurden aufgerissen, auf den Trittbrettern der andern Seite drängen Beamte die Reisenden, den Zug zu verlassen. Die Damen liessen sich Zeit; sie berieten noch, ob der Kinderwagen schwarz oder weiss sein sollte, als der Beamte draussen bereits ungeduldig zum sofortigen Verlassen des Wagen aufforderte. - - Es war zu spät! Georg musste den Wagen verlassen, er musste den anderen Reisenden folgen, die sich langsam der Sperre näherten, wo man ihre Papiere verlangte. Georgs Herz schien zu zerspringen - ; da war er ohne Gepäck, ohne Papiere – so nahe am Ziel – draussen sah er die grell beleuchtete Barrière [sic!], die die Strasse zwischen Frankreich und Spanien verschloss, - die Brücke, dahinter der Tunnel, der schon auf spanischem Boden lag – die Freiheit - - -

„Vos papiers?“ fragte ihn barsch zum dritten Mal der Grenzwächter. „Mir ist alles gestohlen worden - mein Handkoffer mit Pass und allem – im Zug nach Bordeaux“ …….. Der Wächter rief einen Soldaten und befahl ihm, Georg zum Polizeikommissar zu bringen. Der Kommissar lächelte zu Georgs Geschichte und sagte zu ihm: „Monsieur, Sie kommen wohl aus dem Lager von Ile Longue? ...“ Als Georg betroffen schwieg, legten ihm zwei Gensdarmen auf einen Wink des Kommissars Ketten an die Hände, der eine zog einen Revolver und stiess ihn vorwärts, und so zogen sie durch die Nacht zum Gefängnis von Hendaye. Die eiserne Tür fiel ins Schloss der stinkenden Zelle und Georg sank weinend auf die harte Pritsche. - - - -

(Später hinzugefügter Schluss):

Unter den schmierigen Decken die er auf der Pritsche fand verbrachte Georg eine traurige Nacht. Hosenträger, Schuhriemen und Krawatte waren ihm abgenommen worden (damit er sich nicht aufhängen konnte) und der eklige Geruch aus dem verrosteten Eimer verursachte ihm Brechreiz.

Als am nächsten Morgen der diensthabende Sergeant die Tür zu Georgs Zelle öffnete und ihn fragte ob er sich etwas zum Frühstück bestellen wolle da er das Recht habe sich selbst zu beköstigen, hatte Georg sich einigermassen mit seiner Lage abgefunden. Er bestellte Kaffee, Brot Butter und ein Glas Kognac und fragte den Gensdarm ob er ihm auch ein Gläschen anbieten dürfe. Dies wurde zwar zögernd abgelehnt aber es entspann sich eine kleine Unterhaltung mit dem gemütlichen Mann und Georg der brennend gern aus seiner Zelle in die sonnige Wachstube gegangen wäre verlangte Papier und Bleistift, um den Sergeanten zu zeichnen. Georg verstand es die Sitzung recht lange auszudehnen, das Portrait glückte auch recht gut und trug Georg nicht nur die Simpathie [sic!] des Sergeanten sondern auch noch ein Päckchen Taback [sic!] ein. Er wurde an den ablösenden Wachtmeister weiterempfohlen den er auch zeichnete und der ihm sagte dass man Pariser Befehle abwarten müsse um zu wissen was weiterhin mit ihm geschehen würde. So verbrachte Georg einige erträgliche Tage bis die Nachricht kam dass er in ein nahe gelegenes Lager in den Hautes Pyrenées zu bringen sei. Mr. Raoul Dupuis, der Wächter, den er zuerst gezeichnet hatte trat mit ihm die Reise in das neue Lager an, dort wurde er von Mr. Dupuis dem Direktor als zu den “moins crapules” gehörigen vorgestellt.

Die Veränderung bedeutete für Georg neues Leben neue Menschen und Unterbrechung der schwer auf ihm lastenden Jahre auf der Halbinsel. - , der
(hier endet der Text)

Max Pretzfelder schickte diesen Text mit vier Skizzen am 28. Oktober 1929 - also 10 Jahre nach seiner Freilassung - an Karl Wolfskehl und bat ihn um Rat. Die beiden Männer hatten Anfang 1920 ihre intensive Korrespondenz unterbrochen und erst Ende der 20er Jahre wieder Kontakt miteinander aufgenommen.

Berlin 28. Okt. 29.

Kurfürstendamm 76 IV bei Danziger

Mein lieber Karl! Wir kommen uns sicher wieder näher - es tat mir so leid dass wir uns das letzte mal so nahe kreuzten + doch nicht sehen konnten ! Vielleicht komme ich n. München wenn mein Freund Pabst dort im Dezember einen Ton Film dreht.

Lieber Karl – ich sende Dir anbei meine „Skizze“ Flucht – vielleicht kannst Du mir einen Rat geben ob + wie man sie verwenden kann – ich gestehe gleich dass sie bei Ullstein abgelehnt wurde. Ich überlasse es ganz Deinem gütigen Ermessen, zu kürzen zu ändern wie Du es für gut hältst. Kann mans der Münchener Illustr. anbieten? ...

Ein weiteres Exemplar des Textes (ebenfalls undatiert, aber ohne den angehängten Schluss und ohne Skizzen) befindet sich im Nachlass von G.W. Pabst.

Es stellt sich nun die Frage, wann Max Pretzfelder diesen Text verfasst hat.

Nach seiner Freilassung kehrte Max Pretzfelder zunächst in seine Heimatstadt Nürnberg zurück, dann Anfang Dezember 1919 reiste er nach Berlin zu seiner Schwester Anna. Zu Beginn des Jahres 1920 folgte er G.W. Pabst nach Prag, wo dieser ein einjähriges Engagement am Deutschen Theater erhalten und ihm eine Stelle als Theatermaler verschafft hatte. Bevor Max Pretzfelder im Jahr 1925 von G.W. Pabst als Kostümbildner für seine Filme engagiert wurde, [6] arbeitete er in Berlin freiberuflich für Galerien und Verlage als Illustrator und Übersetzer.

Zu vermuten ist daher, dass er den Text Flucht während dieser Zeit in Berlin geschrieben hat - also Anfang der 20er Jahre, sehr bald nach seiner Heimkehr.


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