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Le camp d’internés 1914-1919
Le camp d’internés 1914-1919

Dieser Internet-Auftritt verfolgt das Ziel, möglichst viele Informationen über das Internierungslager auf der Ile Longue zusammenzustellen, damit Historiker und Nachkommen der Internierten sich ein Bild von den Realitäten dieses bisher wenig bekannten Lagers machen können - nicht zuletzt auch, um die bedeutenden kulturellen Leistungen der Lagerinsassen zu würdigen.

Le but de ce site est de prendre contact avec les familles des prisonniers allemands, autrichiens, hongrois, ottomans, alsaciens-lorrains... qui ont été internés, pendant la Première Guerre mondiale, dans le camp de l’Ile Longue (Finistère).

Hans Baehr und seine Sammlung
On-line gesetzt am 28. Juni 2016
zuletzt geändert am 13. Februar 2020

von Ursula

„Wenn man die Dinge nicht ändern kann, dann sollte man das beste daraus machen! -
das war der Leitspruch meines Vaters,“ erinnert sich Dorothea Baehr.

Diese Einstellung hat Hans Baehr in schwierigen Phasen seines Lebens sehr oft geholfen. Vielleicht ist dies auch einer der Gründe dafür, dass er sich – schon mit einem Blick in die Zukunft - entschloss, die Werke der Internierten auf der Île Longue zu sammeln, um so eine Dokumentation über dieses Lager zusammenzustellen.

Die Tochter von Hans Baehr wohnt heute noch auf dem Gelände des Tobiashammer in Ohrdruf, der über viele Jahre in Familienbesitz war, mit verschiedenen Gebäuden und ein einem kunstvoll angelegten Garten. In der DDR-Zeit und insbesondere nach der Verstaatlichung des Tobiashammer im Jahr 1972 hatte sich vieles verändert. Häuser und Garten waren vernachlässigt. Dorothea Baehr hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, den großen Garten zu pflegen und ihm wieder etwas von dem alten Glanz zurückzugeben.

Heute ist der Tobiashammer, eine vor 500 Jahren erbaute mit Wasserkraft betriebene Schmiedeanlage in Ohrdruf/Thüringen, ein Industriemuseum. Der Urgroßvater mütterlicherseits von Hans Baehr, Johann Carl Friedrich Maelzer, kaufte das Werk im Jahr 1840 und modernisierte es in den Folgejahren von Grund auf. Nach dessen Tod im Jahr 1872 übernahm Sohn Christian August Maelzer die Firma. Er vergrößerte das Anwesen durch den Zukauf von Ländereien und den Bau von zusätzlichen landwirtschaftlichen Gebäuden. Als Christian August Maelzer im Jahr 1892 verstarb, leitete seine Frau Minna, eine nicht nur geschäftstüchtige sondern auch kunstsinnige Frau (1849 - 1922), fast neun Jahre lang allein den Betrieb. 1900 übergab sie die Firma ihrem Schwiegersohn Hans Baehr (geb. 12.01.1850) - dem Vater von Hans Baehr -, der Mitinhaber der Firma Baehr & Proeschild in Ohrdruf (Herstellung von Porzellan und Biskuit-Puppenköpfen), war.

Grundlage für diese Beschreibung des Lebens von Hans Baehr, die schwerpunktmäßig die Zeit seiner Gefangenschaft und seine Sammlung zur Île Longue beleuchten soll, sind:

  • Informationen aus der persönlichen Sammlung von Hans Baehr (Eine Trouvaille in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig: Nicht katalogisierte Beilage in der Sammlung Lagerzeitung Die Insel-Woche - Signatur ZB 10939)
  • Mündliche Berichte von Dorothea Baehr, April 2016
  • Hans Baehr, Tagebuch aus der Zeit vom 2.08.1914 bis 24.09.1914, 22 Seiten Schreibmaschine (Gefunden im Nachlaß von Hans Baehr im Mai 2016)
  • Hans Baehr, „Vortrag über meine Gefangenschaft“, undatiert, 17 Seiten Schreibmaschine (Gefunden im Nachlaß von Hans Baehr im Mai 2016)
6 Seiten der Erinnerungsmappe von Hans Baehr,
in: Persönliche Sammlung Hans Baehr

Hans Baehr, geboren am 23.06.1891, ist das zweite Kind von Hans Baehr (*1859) und seiner Frau Helene, geborene Maelzer, (*1869). Er wächst zusammen mit seinen drei Geschwistern, Gerhard (*1889), Margarete (*1892) und Walter (*1899), in Ohrdruf auf.

Nach dem Besuch der dortigen Realschule beginnt er im Jahr 1908 eine berufliche Ausbildung: In Hamburg macht er eine kaufmännische Lehre bei der Firma F. A. Helm & Co., ein Export-Unternehmen für Waren aller Art. Im Jahr 1911 geht er ins Ausland, um seine beruflichen und sprachlichen Kenntnisse zu erweitern. Er absolviert eine halbjährige Volontär-Tätigkeit bei der Firma Ceasar Eiffe in Antwerpen, arbeitet anschließend in London als deutscher und französischer Korrespondent bei der Firma E. Enderlein, und im September 1913 nimmt er eine Stelle bei der Firma Boker, einer bekannten Werkzeugfabrik mit deutschen Wurzeln, in Mexico-City an.

Am 2. August 1914, nachdem die allgemeine Mobilmachung von Kaiser Wilhelm II verkündet worden ist, beginnt Hans Baehr ein Tagebuch, um diese besonderen Ereignisse festzuhalten. Zuerst beschreibt er seine Situation in Mexiko-City sowie seine Überlegungen bzw. Beweggründe, nach Deutschland zurückzukehren.

„Grosse Aufregung herrscht hier seit drei Tagen wegen der europäischen Verwicklung zwischen Oesterreich und Serbien, sowie aber hauptsächlich zwischen Russland und Deutschland. Heute morgen wurden wir vom Tennisplatz telephonisch nach dem Deutschen Haus beordert, wo der deutsche Gesandte (Exellenz von Hintze) über die politische Lage in Europa eine kurze Ansprache hielt. … Die deutschen Reservisten werden mit der ersten Gelegenheit nach drüben fahren, doch ist man sich vorläufig absolut noch nicht klar darüber auf welche Weise, denn deutsche Dampfer würden das Risiko laufen, abgefangen zu werden. Man beabsichtigt, spanische Dampfer zu benutzen, um dann über Spanien, Italien, Schweiz nach Deutschland zu kommen. Es wird dies sicher einer der entsetzlichsten Kriege werden, die es je gegeben hat und bei Deutschland geht es um Leben und Tod, wenigstens wenn auch noch Frankreich mit hineinverwickelt wird. …

Ich selbst bin noch im Zweifel, ob ich nach drüben fahren soll oder nicht. Den Reservisten wird die Reise vergütet, uns Freiwilligen natürlich nicht; von meiner Firma (Boker) kann ich unter den obwaltenden Umständen jederzeit weg und es wäre eine günstige Gelegenheit, dieses Affenland, wo die Revolution nie aufzuhören scheint, zu verlassen.“ [1]

Hans Baehr:
Tagebuch vom
2.08.1914 bis 29.09.1914

Er erleidet jedoch wegen seiner Dysenterie-Erkrankung noch einen Magenkrampf. Sein Arzt, Dr. Th. Hitzig, versichert ihm, dass er reisen kann, verordnet einige Medikamente und gibt ihm darüber hinaus noch eine Bescheinigung, dass Hans Baehr das Klima in Mexiko nicht verträgt und es deswegen ratsam sei, dass er nach Europa zurückkehrt. Diese auf Englisch verfasste Bescheinigung soll insbesondere verhindern, dass Hans Baehr auf der Heimreise von Franzosen oder Engländern festgenommen wird.

Attest von Herrn Dr. Th. Hitzig, 31.07.1914,
in: Persönliche Sammlung Hans Baehr

Als bekannt wird, dass auch die Freiwilligen die Heimfahrt finanziert bekommen, steht sein Entschluss fest. Die Firma Boker zeigt sich kurz vor der Abfahrt großzügig: Sie bezahlt ihren fünf Angestellten, die heimkehren wollen, das volle August-Gehalt und schenkt ihnen darüber hinaus das Reisegeld.

Am 5. August 1914 um 6 Uhr verlässt Hans Baehr mit seinem Kameraden und Hausgenossen Willy Meyer sowie anderen Mexiko-Deutschen Mexiko-City. Eine weite und beschwerliche Fahrt liegt vor ihnen: Eine circa 18 stündige Bahnfahrt bei großer Hitze nach Veracruz; eine Übernachtung auf Feldbetten in einer Privatunterkunft, da alle Hotels belegt sind; danach eine 4-tägige Fahrt mit dem kleinen norwegischen Küstendampfers City of Tampico, der nur 35 Kabinenbetten hat und mit 200 Passagieren völlig überladen ist, über Tampico nach Galvestone; von dort aus eine 72 stündige Bahnfahrt nach New York, wo sie am 14.08.1914 ankommen.

In New York gibt es zuerst Schwierigkeiten, denn die Schifffahrtslinien befördern seit Beginn der Kriegshandlungen keine deutschen Passagiere mehr nach Europa. Mitte August jedoch bietet die Holland-America Line wieder Überfahrten an, und Hans Baehr bucht dort eine 7-tägige Passage für den 25. August 1914 nach Rotterdam auf der Nieuw Amsterdam.

Am Morgen des 2. September 1914 wird die Nieuw Amsterdam von dem französischen Hilfskreuzer Savoie aufgebracht und Hans Baehr zusammen mit 730 Männern gefangen genommen. So sehr er sich auch bemüht, sich mit Hilfe seines Attestes als Kranker auszuweisen, auch er wird zusammen mit seinen Leidensgenossen im Fort Crozon eingesperrt. Er muss dort unter unwürdigen Bedingungen 20 Tage zubringen. Danach werden die Gefangenen auf dem außer Dienst gestellten Kreuzer Charles Martel untergebracht, der im Hafen von Brest als Ponton liegt. Im November 1914 kommen die Gefangenen in das zu diesem Zeitpunkt noch im Aufbau befindliche Internierungslager auf der Île Longue. Hans Baehr wird in Baracke 9 eingewiesen.

Fotos der Mitbewohner aus Baracke 9,
in: Persönliche Sammlung Hans Baehr,
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig

Hans Baehr gehört zu den Internierten, die in dieser Ausnahmesituation weiterhin aktiv sind und ihr Schicksal in die Hand nehmen. So erkundigt er sich mit seinem Schreiben vom 29. Juni 1915 an den Botschafter der Vereinigten Staaten, ob Regelungen zwischen Deutschland und Frankreich bezüglich der Rückführung von Internierten existieren. Das Antwortschreiben vom 8. Juli 1915 bringt die enttäuschende Antwort „Je me permets de vous faire savoir que, selon les renseignements de l’Ambassade, nul arrangement n’a été fait entre les gouvernements Allemand et Francais ...“. [2] Er beschwert sich schriftlich am 4.10.1915, dass das Buch Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche ihm nicht ausgehändigt worden sei und bekommt den Brief mit der Bemerkung zurück „Das Buch war in dem Fundus geblieben, weil es keinen Namen trug, und ich nicht wusste, wie ich es zurückschicken sollte. Censor“.

Durch verschiedene Aktivitäten versucht er, seine Lage erträglicher zu gestalten. Er wird Mitglied bei dem Deutscher Männer Gesangsverein Île Longue „D.M.G.V.I.L.“, bei dem Verein „.F.V Sportfreunde“ und bei dem Deutschen Hockey Club Ile-Longue, dem auch Chistian Barth und Herbert Ganslandt angehören. Freundschaftliche Kontakte pflegt er insbesondere zu seinen früheren Bekannten aus Mexiko, wie Kurt Jessen, Hans Georg von Wurm, Alfred Ibach, Hugo Ferndinand Husen und Willy Meyer, der in Baracke 13 einen kleinen Bücherladen aufgemacht hat.

Auch in Baracke 9 regt sich unternehmerischer Sinn. Einige Internierte bieten ihre Dienste an: Wilhelm Rust, ein Schneider aus Versmold, der sich von St. Louis aus auf den Weg in die Heimat gemacht hatte, firmiert als Rust & Co. Herrenschneiderei; Wilhelm (Karl Seeger) Schlitz, ein Architekt aus Nied/Main, der in Illinois tätig war, bezeichnet sich als „Hoflieferant der Lagerverwaltung“ und bietet Lichtbilder und die Anfertigung von Lampenschirmen an. Martin Noack aus Dresden, Pianist der Kapelle des Transatlantikliners Vaterland, der in New York festgesetzt wurde, gründet ein Streichorchester und verkauft in Baracke 9 Konzertkarten und Abonnements. Martin Noack ist auch Mitglied des Klavierausschusses, der sich für den Kauf eines Klavier einsetzt. Es werden Benefizkonzerte organisiert, um die Mittel dafür aufzubringen.

Hans Baehr interessiert sich sehr für das kulturellen Leben im Lager. Er geht zu Konzerten und Theatervorstellungen und natürlich auch zu den Wohltätigkeitsveranstaltungen, die zu Gunsten der Hilfsbedürftigen auf der Île Longue organisiert werden, wie z. B. die ganztägige Veranstaltung „Margeritentag“ am 4. Juli 1915, (Programm: Früh-Concert, Stadt & Land Couplet, Linien/Aequator Taufe, Stierkampf, nach dem Appell-Specialitäten-Theater), deren Erlöse „zum Besten der Hospitalkasse“ gedacht sind. Die einfallsreiche und auch künstlerische Gestaltung der Programme (bis 1916 zumeist in hektografierter Form) faszinieren ihn, und er beginnt sie zu sammeln.

Sein besonderes Interesse gilt dem neuen Zeitungsprojekt. Ein Gruppe von Internierten – unter der Leitung von H. Schuett – hat es sich zum Ziel gesetzt, für die Internierten eine Art Sprachrohr zu schaffen, mit dem sie die Möglichkeit haben, ihre Erlebnisse und Empfindungen in dieser schweren Zeit festzuhalten. Die Zeitung, Die Insel-Woche genannt, wird handschriftlich angefertigt und anschließend hektografiert. Am 20. Juni 1915 erscheint sie zum ersten Mal, ohne dass die Lagerleitung davon Kenntnis erhält. Sie findet großen Zuspruch, viele Internierte wollen sich beteiligen und liefern Beiträge für die Zeitung, wie Artikel und Gedichte – zum Teil im recht propagandistisch-nationalistischen Ton. Durch einen unglücklichen Zufall erfährt die Lagerleitung nach einigen Wochen von der Existenz der Zeitung, und fortan müssen die Redakteure vor dem Erscheinen der 4-seitigen Insel-Woche ein Exemplar der Zensur vorlegen. Hans Baehr besorgt sich von jeder Zeitung ein besonders gut gelungenes Exemplar und bewahrt diese auf.

Er lässt sich von Leo Primavesi, einem deutschen Maler aus Köln, der in Antwerpen verhaftet worden war, porträtieren: Zwei Zeichnungen und ein Ölgemälde (letzteres nicht signiert) will er als Erinnerung mit nach Hause nehmen. [3]

Porträts Hans Baehr von Leo Primavesi aus dem Jahr 1915

Mit einem speziell für ihn entworfenem Exlibris (wahrscheinlich auch von Leo Primavesi) kennzeichnet er all seine Bücher und Unterlagen

Ende 1915 kommen - aufgrund von Meldungen in französischen und deutschen Zeitungen - Gerüchte über einen Austausch von Kranken auf. Die Internierten gehen in sich und überlegen, welche Kranheitsgründe es für sie geben könnte - auch Hans Baehr. Er hat seine Krankheit zwar überwunden, aber sein Magen ist immer noch etwas empfindlich, was vielleicht auch auf die Lagerkost zurückzuführen ist, und er hat sein Attest von Dr. Hitzig aufbewahrt. Als am 6. April 1916 endlich die Kommission schweizerischer und französischer Ärzte in das Lager kommt, um festzustellen, wer aus Krankheitsgründen in die Schweiz verlegt werden soll, meldet er sich. Er ist einer der letzten, die untersucht werden, legt seine Bescheinigung vor – und gehört zu den „glücklichen“ 110 Gefangenen, die nach Lyon zur Generaluntersuchung geschickt werden.

Am 15. April 1916 um 2 Uhr findet ein „Letztes Wohltätigkeits-Fest vor der Abreise unserer Kameraden nach der Schweiz“ statt. Hans Baehrs persönliches Programmblatt trägt die Nr. 105. Seine Freunde und Mitbewohner verabschieden sich von ihm mit kleinen Erinnerungs-Geschenken, Fotos mit Widmungen, Gedichte, eine Skizze „Unser Hänschen“ von Martin Noack, werden ihm noch mit auf den Weg gegeben.

Foto der Gruppe Mexiko-Deutsche,
in: Persönliche Sammlung Hans Baehr

Am 23. April 1916 verlässt die Gruppe das Lager. Hans Baehr kommt am 2. Mai 1916 in der Schweiz an und wird zur Erholung nach Teufen im Kt. Appenzell gebracht.

Als seine Eltern diese erfreuliche Nachricht erhalten, beschließen sie sogleich, ihren Sohn in der Schweiz zu besuchen. Sie müssen diese Reise jedoch etwas verschieben, weil ihr ältester Sohn Gerhard von der russischen Front zurückkommt. Gerhard kann jedoch nur einige Tage in Ohrdruf bleiben, denn am 28. Mai 1916 erhält bereits seinen neuen Einsatzbefehl, er muss an die französischen Front. [4] Anfang Juni 1916 sehen die Eltern ihren Sohn nach vier langen Jahren wieder. Hans Baehr kann ihnen nun ohne die Zensur berichten, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist. Sie besprechen alle wichtigen Angelegenheiten miteinander, einige Pakete mit Büchern und Unterlagen werden auf den Weg nach Ohrdruf gebracht. Nach ein paar gemeinsam verbrachten Tagen machen sich die Eltern Baehr wieder auf den Heimweg, im Gepäck ein paar Bilder und „Biberli-Haufen“, eine Lebkuchen-Spezialität aus Appenzell, für die Familie. Am 24. Juni 1916 sendet Hans Baehr seiner Mutter eine Postkarte und gibt ihr weitere Instruktionen hinsichtlich seiner Büchersendungen.

Nach sechs Monaten hat sich Hans Baehr soweit erholt, dass er in St. Gallen im Deutschen Hilfsverein in der Abteilung für Kriegsbeschädigte und Hinterbliebenen-Fürsorge arbeiten kann. In dieser Zeit hält er weiter Kontakt zu seinen Freunden im Lager Île Longue, die ihm viele Neuigkeiten berichten können. Henri Juhel hat nach zwei Jahren den Kommandanten A. Alleau abgelöst, da die Zuständigkeit für das Lager vom Kriegsministerium auf das Innenministerium übertragen wurde. Die gefangenen Soldaten sind bis zum Sommer 1916 in andere Lager verlegt worden, sodass sich nur noch Zivilinternierte im Lager befinden. Die frei gewordenen Baracken sind inzwischen durch Zivilinternierte aus anderen Lagern wieder gefüllt. Die im Juni demontierten Adrian-Baracken werden wieder aufgebaut. Sie werden jedoch nicht mit Mannschaften belegt. So erreichen es die Internierten, dass einige der Baracken, für andere Zwecke zur Verfügung gestellt wurden. G.W. Pabst hat es geschafft, für zwei Baracken die Genehmigung zur Errichtung eines Theaters zu erhalten, eine richtige Druckerei ist eröffnet worden, und Ewald Kowalski kann endlich eine neue Serie der Lagerzeitung herausgeben. Hans Baehr schreibt postwendend zurück und bittet seine Freunde, für ihn Exemplare der Druckwerke zu sammeln bzw. zu kaufen.

Am 22. September 1917 wird Hans Baehr aus der Schweiz in die Heimat entlassen und bleibt für einige Monate im elterlichen Betrieb. Auch jetzt findet er Zeit, mit seinen Kameraden auf der Île Longue und auch mit seinen Kollegen vom Deutschen Hilfsverein in der Schweiz zu korrespondieren. Diese berichten ihm von einem Artikel in der Lagerzeitung Die Insel Woche Nr. 24 „Die Gefangenen von 1914“, den Gustav Tschentscher am 16.09.1916 veröffentlicht hat und den er dem Rote Kreuz anlässlich des Besuches einer Untersuchungskommission auf der Île Longue zugespielt hat. Gustav Tschentscher beklagt darin im allgemeinen das geringe Interesse der internationalen Organisationen, auch des Roten Kreuzes, an der Situation der Zivilgefangenen und insbesondere die seiner Meinung nach ungerechte Verteilung der deutschen Volksspende, von der die Zivillager fast nicht abbekommen hätten.

Hans Baehr beschließt daraufhin, eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu organisieren. In einer Abendveranstaltung mit verschiedenen Künstlern, die den Abend festlich gestalten, hält er einen langen Vortrag über seine Gefangenschaft. Der Erlös ist für den Deutschen Hilfsverein auf der Île Longue gedacht, der dort gegründet wurde, um den bedürftigen Gefangenen zu helfen.

Hans Baehr:
Vortrag über meine Gefangenschaft,
undatiert

Werner Hering, ein Bekannter aus Mexiko, der mit ihm zusammen auf der Île Longue interniert war und zur gleichen Zeit aus Krankheitsgründen in die Heimat entlassen wurde, wird ebenfalls tätig. Er gibt eine kleine Broschüre über seine Erlebnisse in der Kriegszeit heraus, deren Erlöse auch für die noch in der Gefangenschaft befindlichen Kameraden gedacht sind.

Beruflich hat Hans Baehr weitere Pläne, er möchte sich im Bankwesen weiterbilden. Sein Vater besorgt ihm eine Stelle bei der Kreditbank in Sofia, Bulgarien, mit der es zu der Zeit in Thüringen intensive Beziehungen gab, Zar Ferdinand I stammte aus der Dynastie Sachsen-Coburg und Gotha. Mitte 1918 reist Hans Baehr nach Sofia. Doch schon nach kurzer Zeit muss er diese Tätigkeit aufgeben. Sein Bruder Gerhard ist am 30. August 1918 bei den letzten Kämpfen um Verdun gefallen, und sein Vater bittet ihn heimzukommen, weil er einen Nachfolger für den Betrieb braucht. Schon im Jahr 1919 tritt Hans Baehr als Handlungsgehilfe in die elterliche Firma, das Kupferhammerwerk Tobiashammer ein und erwirbt das Ohrdrufer Bürgerrecht. Am 1. März 1922 wird er Teilhaber in der Firma Carl Maelzer & Comp.

Auch in der Nachkriegszeit steht er in Verbindung mit seinen Freunden aus der Lagerzeit.
Seine Freunde Georg von Wurmb und Kurt Jessen besuchen ihn in Ohrdruf. Kurzfristig bestand auch Kontakt zu Fritz Sauckel, der seine politische Karriere bei den Nazis in Thüringen begann. Der ehemalige Internierte Friedrich Lerche in Berlin Köpenik, Eichen-Allee 14, ein Radio-Telegrafist aus Togo, ist für Hans Baehr bei all diesen Aktivitäten ein guter Ansprechpartner. Friedrich Lerche hatte sich bereit erklärt, als “Nachrichtenvermittlungsstelle“ in Deutschland für die Internierten auf der Île Longue zu fungieren.

Inzwischen hat Hans Baehr die von seinen Kameraden für ihn gesammelten Druckwerke aus den Jahren 1917, 1918 und 1919 erhalten. Alfred Ibach [5] insbesondere hat ihm bei der Vervollständigung seiner Sammlung geholfen.

Postkarten von Alfred Ibach, Île Longue,
an Hans Baehr, Ohrdruf, 1918,
in: Persönliche Sammlung Hans Baehr

Er besorgte ihm die Lageransichten von Richard Kober und wahrscheinlich auch drei weitere kleine Grafiken (Eule - von Max Pretzfelder, fliegende Eule, Mann in Ketten, Gedenkblatt der HAKU 1917 - von Leo Primavesi). Im Jahr 1918 kaufte Alfred Ibach für Hans Baehr die Theatermappe Schauspiele Île Longue und besorgte ihm alle Exemplare der neuen Serie der Lagerzeitung. Es ist eine recht umfangreiche Sammlung zusammengekommen. Hans Baehr lässt die Exemplare der beiden Zeitungsserien in Ohrdruf einzeln binden.

Als Elert Seemann 1923 ein Treffen von ehemaligen Internierten aus dem Lager der Île Longue in Goslar organisiert, fährt Hans Baehr natürlich hin, Freund Kurt Jessen ist unter den 21 Teilnehmern. Einige der Teilnehmer haben noch Dokumente aus der „alten“ Zeit mitgebracht. Herbert Ganslandt aus Kassel ist auch angereist. Er überlässt Hans Baehr einen Zeitungsartikel über die Insel-Woche, der am 3. Februar 1918 in der Kölnische Zeitung veröffentlicht wurde.

Zeitungsausschnitt Kölnische Zeitung,
Artikel „Die Insel-Woche“ vom 03.02.1918,
in: Persönliche Sammlung von Hans Baehr

Im Jahr 1925 heiratet Hans Baehr Erika Neuhoff, die Tochter des Oberzollrevisors Carl Neuhoff aus Osterode/Ostpreußen. 1926 wird sein Sohn Hans-Georg geboren, im Jahr 1929 Peter. Erst zehn Jahre später, am 5. Juni 1939, vor dem 2. Weltkrieg, erblickt seine Tochter Dorothea das Licht der Welt. Diese Zeit zwischen den beiden Kriegen ist für Hans Baehr wahrscheinlich die glücklichste seines Lebens. Die Verantwortung für den Betrieb kann er noch mit seinem Vater teilen und hat somit Zeit für seine Familie. Er wird aktives Mitglied des Musikvereins in Ohrdruf, zusammen mit seiner Familie beteiligt er sich an den Musik- und Theaterveranstaltungen. Dann ist noch der unvergessliche Besuch von Marcel Rocher aus Frankreich zu erwähnen, der im Jahr 1929 mit seiner Familie aus Paris anreist, um die Baehrs zu besuchen, bei denen er während seiner Kriegsgefangenschaft gearbeitet und gelebt hat. Der Briefkontakt mit Marcel Rocher hält noch über viele Jahr an und wird erst durch den 2. Weltkrieg unterbrochen. [6]

Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1951, wird Hans Baehr alleiniger Inhaber und Leiter der Firma Carl Maelzer & Comp. Für ihn, seine Familie und den Tobiashammer folgen die schwierigen Jahre des 2. Weltkriegs und der DDR-Zeit. Seine Frau Erika stirbt bereits 1952. Seine Söhne gehen in den Westen, weil es ihnen als „Kapitalisten-Söhne“ verwehrt ist, die gewünschte Fachrichtung zu studieren. Tochter Dorothea bleibt in der DDR und nimmt in Mühlhausen eine Stelle als Apothekerassistentin an. Nachdem im Jahr 1972 die Firma mit dem Grundstück an den Wirtschaftsrat des Bezirkes Erfurt „verkauft“ und im Jahr 1973 durch das Stahlverformung-Werk Ohrdruf übernommen wird, zieht Tochter Dorothea 1975 zu ihrem Vater nach Ohrdruf. Hans Baehr ist inzwischen 83 Jahre alt.

Das Werk Tobiashammer wird ab 1980 restauriert und 1983 als technisches Denkmal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Im Frühjahr 1977 fasst Hans Baehr den Entschluss, seine Sammlung aus der Internierungszeit der Deutschen Bücherei in Leipzig zu übergeben. Möglicherweise ist Hans Baehr auf diese Idee gekommen, weil er wusste, dass sich dort im Bestand bereits eine bedeutende Sammlung mit Druckgrafiken aus dem Internierungslager der Île Longue „Blätter aus der Gefangenschaft“ befindet. Hat er doch 1923 während des Treffens der ehemaligen Internierten in Goslar von Elert Seemann erfahren, dass Gustav Kirstein, Mitinhaber des Kunstverlags E.A. Seemann und Vorsitzender des „Leipziger Bibliophilen-Abend“, der Bücherei im Jahr 1920 diese Druckgrafiken geschenkt hatte.

Er sucht seine Unterlagen zusammen, zwei Sammlungen befinden sich in Pappmappen, die beiden Serien der Insel-Woche hat er in Ohrdruf binden lassen. In einem großen Umschlag findet er noch weitere von ihm gesammelte Papiere, wie Programme, kleinere Grafiken und Artikel sowie ein Anschreiben, das er im September 1917 verfasst hat. Diese Unterlagen passen nicht so recht in sein Ordnungssystem. Deshalb sortiert er sie als Beilage zu den beiden Sammel-Bänden der Lagerzeitschrift. Einen Blick wirft er noch in seine persönliche Erinnerungsmappe mit den Fotos seiner Freunde, den Ansichtskarten, Artikeln und den selbst gepressten Blumen. Dann legt er sie in den 1. Band der Lagerzeitungen, zu der 1. Serie der Insel-Woche aus den Jahren 1915/1916.

Diese Sammlung übergibt Hans Baehr am 17.06.1977 der Deutschen Bücherei in Leipzig.

Am 10.05.1989, kurz vor der Wende, stirbt Hans Baehr im Alter von 98 Jahren in Ohrdruf.

Im Mai 2015 erhält Dorothea Baehr den Anruf einer Unbekannten.

Die Tochter des ebenfalls auf der Ile Longue Internierten Carl Röthemeyer hat bei einer Recherche in den beiden Sammel-Bänden der Insel-Woche die losen Beilagen von Hans Baehr entdeckt, die im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek (frühere Deutsche Bücherei) nicht aufgeführt sind. Sie folgt der Spur Tobiashammer und findet in Ohrdruf die fast gleichaltrige Tochter des Internierten Hans Baehr. Beide tauschen Informationen aus und bald ist eine Gemeinsamkeit entdeckt: Jede hat in ihrem Haus ein Porträt des Vaters aus der Internierungszeit hängen, gezeichnet von Leo Primavesi.

Dorothea Bähr in Ohrdruf, April 2016

Dorothea Baehr berichtet sehr viel über das Leben ihres Vaters, seine Sammlung zur Île Longue ist ihr jedoch nicht bekannt. Deshalb wird ein Treffen in Ohrdruf verabredet, kombiniert mit einer gemeinsamen Fahrt nach Leipzig zur Deutschen Nationalbibliothek. Im April 2016 kommt dieses Treffen zustande. Dorothea Baehr hat in der Zwischenzeit ein weiteres Porträt von Leo Primavesi herausgesucht und im Nachlass ihres Vaters noch eine Mappe mit Konzert- und Theaterprogrammen sowie Unterlagen über das Treffen in Goslar gefunden. Am 18. April 2016 findet die Fahrt nach Leipzig statt, um sich die Sammlungen von Hans Baehr anzusehen. Dorothea Baehr übergibt bei dieser Gelegenheit der Deutschen Nationalbibliothek die noch gefundene Mappe und vervollständigt damit die bereits vorhandene Sammlung ihres Vaters:

  1. Lagerzeitung Die Insel-Woche 1. Folge, in Ohrdruf gebunden und mit seinem Exlibris versehen
  2. Lagerzeitung Die Insel-Woche 2. Folge, ebenfalls in Ohrdruf gebunden, mit Exlibris versehen
  3. Jahresbericht des Turnvereins Ile-Longue 1916 / 1917
  4. 1 Exemplar der Lagerzeitung Die Inselstimme
  5. Theatermappe (Faltmappe) Schauspiele Ile Longue in Faltmappe mit Exlibris versehen
  6. Eine handgefertigte Mappe aus Pappe mit persönlichen Erinnerungsstücken wie Fotos, Postkarten und gepressten Blumen
  7. Faltmappe mit Konzert- und Theaterprogrammen, mit Exlibris
Sammelmappe für Theater- und Konzertprogramme
mit dem Exlibris von Hans Baehr

Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig hat somit in ihrem Archiv dank Hans Baehr und auch dank seiner Tochter Dorothea Baehr, eine bemerkenswerte Sammlung zur Geschichte des Internierungslagers auf der Île Longue in Frankreich.


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